Mitbestimmen oder überhaupt wahrgenommen werden - für Kinder und Jugendliche ist das nicht selbstverständlich. Weder in der Schule noch in der Politik wird es ihnen leicht gemacht, ihre Interessen durchzusetzen. Durch Corona und die Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen sind ihre Bedürfnisse noch mehr aus dem Blick geraten. Konzerte besuchen, feiern, sich austauschen, zusammen lernen oder auch nur gemeinsam abhängen - das war monatelang gar nicht und ist auch jetzt nur sehr eingeschränkt möglich. Niemand hat sie gefragt, wie sie mit videobasiertem Unterricht zurechtkommen oder ob es bei ihnen Zuhause überhaupt das nötige technische Equipment gibt. Weder die Politik noch die Medien hat es interessiert, was es für Kinder und Jugendliche bedeutet, wenn das soziale Leben nur noch im Digitalnetz stattfindet.
Kein Mitbestimmungsrecht in der Krise
Im Rahmen der bundesweiten Studie „Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen“ (JuCo-Studie) wurden dazu mehr als 5.000 Schülerinnen und Schüler befragt. Ein Ergebnis: Junge Menschen leiden ganz besonders unter der starken Einschränkung ihrer Bewegungs- und Kommunikationsräume und auch darunter, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Weder ihre Bedürfnisse noch ihre Gestaltungsideen sind in der Krise abgefragt worden. Kein Wunder, dass sie sich übergangen fühlen.
Der Bahnhof als Theaterbühne
Dem konzertiert etwas entgegenzusetzen war Ziel des landesweiten Kultur-Großprojektes „#anBahnen“. Der Grundgedanke: Zeitgleich am 5. September 2020 an verschiedenen Orten möglichst viele Menschen in Brandenburg mit möglichst interessanten Performances zu erreichen - und das öffentlichkeitswirksam auf Bahnhöfen immer dann, wenn ein Zug hält. „Die Idee war, den Bahnhof oder die Bahnstrecke als Theaterbühne zu nutzen. Das haben wir von einer ähnlichen Aktion der Bauhaus-Universität Weimar übernommen“, so Uta Lauterbach von der Jugendbildungsstätte des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Flecken- Zechlin (Ostprignitz-Ruppin) und eine der Organisatorinnen des Projektes. „Und wir dachten, mit diesem Format könnten wir gut demonstrieren, dass Kinder und Jugendliche auch in schwierigen Zeiten nicht nur als Schülerinnen und Schüler existieren.“
Junge Menschen können mehr
Es ging aber auch darum, die Vielfalt der Kinder- und Jugendkultur zu vermitteln: „Oft wird kritisiert, dass junge Menschen kaum Interesse an Kultur und Aktion haben, dass sie ihre Freizeit nur vor dem Computer verbringen. In Wirklichkeit haben sie aber sehr darunter gelitten, dass sie im Lockdown genau dazu quasi gezwungen waren. Wir wollten zeigen: Kinder und Jugendliche können und wollen mehr.“
Katja Stephan vom Kompetenzzentrum Kinder- und Jugendbeteiligung Brandenburg (Kijubb) und ebenfalls Organisatorin des Aktionstages ergänzt: „Wir wollten auch Impulse für eine stärkere Beteiligung junger Menschen an der Planung in Städten und Gemeinden setzen. Der Anspruch darauf ist in der Brandenburger Kommunalverfassung verankert. Das wurde in der Krise anscheinend außer Kraft gesetzt.“ Ein weiteres Ziel: Vernetzung der vielen Akteure, die sich auf dem Gebiet der Jugendsozial- und Kulturarbeit oder für Kinder- und Jugendbeteiligung engagieren, um gemeinsam neue Ideen, Strukturen und Perspektiven für die schwierige Zeit in und nach der Corona-Krise zu entwickeln.
Nur zwei Monate für die Vorbereitung
Mit der Planung begonnen wurde erst zwei Monate vor der Aktion. Womit niemand gerechnet hatte: Jugendgruppen und -initiativen aus 38 Brandenburger Orten haben sich beteiligt. „Ursprünglich waren wir von zwei, höchstens drei beteiligten Gruppen ausgegangen. Dass es dann so viele geworden sind, zeigt nicht nur den großen Bedarf, es macht auch deutlich, wie viel Engagementbereitschaft es bei den Jugendlichen gibt“, meint Uta Lauterbach.
Die Kinder und Jugendlichen haben innerhalb kürzester Zeit überlegen müssen, welche Botschaft ihnen wichtig ist und wie sie sie mit Witz und Überzeugungskraft in den höchstens drei Minuten vermitteln können, die die Züge auf den Bahnhöfen halten. Die Wittstocker Jugendlichen nahmen den Anlass wahr, um ihr in einem alten Bahnhofsgebäude angesiedeltes neues Jugendzentrum zu eröffnen.
Dinos, Tanz, Graffiti, Jumpstyle, Rap ...
Anderswo haben sich die Jugendlichen Dinosauriererkostüme gebastelt und sind mit Regenbogenfahnen am Bahnsteig entlanggelaufen, in Wittenberge haben sie in einfarbigen Ganzkörperanzügen ganz in Weiß gekleidete Gleichaltrige mit Sprühfarbe ein wenig bunter gemacht, während im Hintergrund ein Zweierteam zum Thema sexuelle Selbstbestimmtheit rappte. Ganz eindeutig, dass beide Aktionen auf Wahrnehmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt zielten. Anders in Storkow. Dort tummelten sich auf dem Bahnsteig blutige Zombies, coronabedingt anscheinend zu abgestumpft, um die Passagiere zu belästigen. In Lindenberg wurden gleich mehrere Choreografien präsentiert - zum Teil mit Maske und in Plastiktüten gehüllt, zum Teil mit Wichtelmützen. Die plakative Botschaft: „Hey Leute, wir sind keine Illusion! Wir sind die Jugend - die Zukunft der ländlichen Region.“
Getanzt wurde auch in Eisenhüttenstadt. Und in Fürstenwalde waren alle Kinder und Jugendlichen eingeladen, im Rahmen eines Graffiti-Events gemeinsam eine Mauer zu besprühen. So oder ähnlich demonstrierten Kinder und Jugendliche im ganzen Land, dass es ihnen an Ideen, Mut und Kreativität nicht mangelt. Weniger schön: Der für Glöwen eingeübte Jumpstyle mit BMX-Rädern konnte nicht aufgeführt werden - Anwohner:innen hatten sich über die Belästigung beschwert und die Polizei gerufen.
Kooperatives Projekt vieler Organisationen
#anbahnen wurde von einer Vielzahl gemeinnütziger Organisationen und Vor-Ort-Jugendgruppen mit Unterstützung des Ministeriums für Bildung Jugend und Sport des Landes Brandenburg (MBJS) entwickelt und abgestimmt - coronabedingt fast ausschließlich in Videokonferenzen und auf Online-Plattformen. Zu den direkten Förderern der beteiligten Jugendgruppen und -initiativen zählt neben dem MBJS auch das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) verwaltete Bundesprogramm „Demokratie leben“. Die organisatorische Federführung lag beim Paritätischen Kompetenzzentrum für Kinder- und Jugendbeteiligung Brandenburg (Kijubb).
Das Kijubb-Team hat alle Bahnhöfe am Aktionstag gemeinsam mit Doreen Frenz vom MBJS und Michael Matzke vom BMFSFJ sowie Vertreterinnen und Vertretern weiterer beteiligter Organisationen besucht. Zwei Gruppen waren dafür je mindestens 10 Stunden mit Regionalzügen unterwegs. „Ganz schön anstrengend“, so Katja Stephan, „aber auch cool, was unsere Jugend für Ideen hat.“